Demographie als Chance begreifen

Interview mit Leonora Fricker, Leiterin des Programms „rebequa“. Das Interview wurde im Frühjahr 2017 in Markets International, einer Publikation der GTAI veröffentlicht.

Leonora Fricker

Leonora Fricker, Leiterin des Programms „rebequa“, das mittelständische Unternehmen bei der Bewältigung des demographischen Wandels berät.

Bonn/Berlin, den 09. Februar 2017 - Eine steigende Anzahl von Betrieben nehmen eine Demographieberatung in Anspruch. markets führte hierzu ein Interview mit Leonora Fricker, Leiterin des Programms „rebequa“. Das Programm rebequa unterstützt kleine und mittlere Unternehmen (KMU) seit über 10 Jahren bei der betrieblichen Bewältigung des demographischen Wandels.

Was sind die größten Herausforderungen des demographischen Wandels für Unternehmen?

Die größte Herausforderung liegt für Betriebe darin, sich an neue Marktstrukturen anzupassen. Zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt: Einerseits müssen die Betriebe länger mit älteren Beschäftigten zusammenarbeiten, andererseits darauf vorbereitet sein, dass hochqualifizierte Mitarbeiter mittleren Alters schnell abgeworben werden. Diese sind nämlich rar und gesucht. Währenddessen nimmt die Zahl der jungen Bewerber stetig ab. Es gilt einen guten Mix aus allen Altersgruppen im Betrieb zu erhalten.

Was ist die Besonderheit des rebequa Programms?

Das rebequa Programm will das Stichwort „Demographie“ positiv besetzen. So zeigt es demographische Chancen in den unterschiedlichsten Regionen auf, stellt dem Betrieb mit dem Demographieberater einen „Problemlöser“ zur Seite und fördert durch Veranstaltungen die Kompetenz im Betrieb.

Die Demographieberatung betrachtet nicht nur die betriebliche, also interne Demographie, sondern gleicht diese auch mit der regionalen Demographie ab. Denn der demographische Wandel schwankt von Region zu Region. Dies lässt sich gut am Beispiel von Nordrhein-Westfalen zeigen: Ob Sie in Bonn sitzen oder in Gelsenkirchen, ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Sie haben z.B. in Bonn einen viel besseren Zugriff auf hochqualifizierte Arbeitskräfte. Das Ruhrgebiet ist die vom demographischen Wandel am stärksten betroffene Region in Westdeutschland, vergleichbar mit Mecklenburg-Vorpommern für ganz Deutschland. Es gibt dort eine rückläufige Arbeitsplatzentwicklung, eine starke Alterung der Bevölkerung und leere öffentliche Kassen. Ein Betrieb muss also schauen, wie er geeignete Bewerber rekrutiert, neue Kundensegmente erschließt und mit einer älteren Belegschaft wettbewerbsfähig bleibt.

Wie gehen Sie bei einer Demographieberatung vor?

Die Demographieberatung erfolgt in drei Schritten: Am Anfang steht die Ermittlung der betrieblichen Demographie anhand der Altersstrukturanalyse (ASA). Die Ergebnisse dieser Analyse sind für viele Geschäftsführer und Personalleiter ein Augenöffner, stellen die Dringlichkeit der Thematik dar und erhöhen die Handlungsbereitschaft. Im zweiten Schritt werden geeignete Maßnahmen in allen betrieblichen Handlungsfeldern gemeinsam mit der Geschäftsführung und der Belegschaft entwickelt. Im letzten Schritt wird ein Demographiecontrolling etabliert. Das Ziel der Demographieberatung besteht darin, eine altersausgewogene Personalstruktur im Betrieb zu erreichen.

Was ist ein Demographiecontrolling?

Das Demographiecontrolling basiert auf Kennzahlen, die anzeigen, in welchen Bereichen demographiebedingt Probleme vorliegen. Eine Kennzahl ist beispielsweise der Krankenstand im Branchenvergleich. Wenn dieser über dem Branchendurchschnitt liegt, kann dies ein Indikator für eine demotivierende und „krankmachende“ Unternehmensführung sein. Wir schauen uns auch an, wie hoch die Bereitschaft ist, ältere Mitarbeiter zu schulen. Daran lässt sich erkennen, ob ein Betrieb ältere Mitarbeiter wertschätzt und deren Kompetenz erhalten möchte.

Wir beobachten zudem, wie das Unternehmen rekrutiert: Wie hoch ist der Anteil an ausländischen Bewerbern? Wie bereitwillig lädt man ausländische Bewerber ein, auch zu einem Folgegespräch? Dasselbe gilt für qualifizierte Frauen. Frauen sind im Maschinenbau und im gesamten Bereich der Fertigung unterrepräsentiert. Eine Beraterin hat mir neulich geschildert, dass es bei einem Kunden aus dem Maschinenbau nicht gerne gesehen wird, wenn ein Mann Elternzeit nimmt. Wir treffen gerade im Mittelstand auf sehr traditionelle Strukturen, die Anpassungsprozesse an demographische Veränderungen erschweren können.

Was sind aus Ihrer Sicht konkrete Maßnahmen, die eine Geschäftsführung treffen kann, um den Betrieb fit für den demographischen Wandel zu machen?

Wir schauen uns zum Beispiel an, ob das Unternehmen die Kundengruppe der Älteren anspricht. Arbeiten im Bereich Forschung und Entwicklung auch Ältere? Werden die Produkte an ältere Zielgruppen angepasst? Wird bei der Arbeitsplatzgestaltung auf die Ergonomie geachtet? Werden zum Beispiel Fabrikationsstraßen an ältere Mitarbeiter angepasst, sodass die sich nicht allzu häufig bücken müssen?

Das schont aber auch jüngere Mitarbeiter und ist im Sinne der Prävention. Wie wird mit älteren Mitarbeitern gesprochen? Werden diese weitergebildet und als wertvolles „Humankapital“ gesehen? Gibt es Wissenstandems, um das Wissen der Älteren auf die Jüngeren zu übertragen? Das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) bietet ebenso eine Fülle an Maßnahmen an. BGM wurde ursprünglich für Großbetriebe entwickelt. KMU haben häufig Vorbehalte, wenn sie „BGM“ hören, weil sie häufig weder das Budget noch die Manpower für weitgehende systematische Ansätze haben. Dennoch kann mit wenigen Mitteln viel erreicht werden.

Wie messen Sie den Erfolg der Demographieberatung?

Die Demographieberatung entspricht dem „Total Quality Management“ Gedanken. Das heißt, es wird nicht nur eine einmalige Maßnahme durchgeführt, sondern eine Konzept implementiert, das der Betrieb idealerweise selbst weiter fortführen kann. Sie können dann an den Kennzahlen ablesen, ob die Maßnahmen greifen oder nicht. Ein Erfolg ist es sicherlich, wenn der Betrieb gemeinsam mit dem Berater geeignete Maßnahmen überhaupt erst umsetzt. Es geht einfach darum „ins Tun“ zu kommen. Nur die Altersstruktur zu analysieren, reicht nicht.

Als Fazit nennen Sie bitte fünf Punkte, wie sich ein mittelständisches Unternehmen auf die Alterung vorbereiten kann.

1. Es muss ein Paradigmenwechsel her, ältere Mitarbeiter sind Leistungsträger.
2. Der demographische Wandel ist kein HR-Problem. Der demographische Wandel ist ein Querschnittsthema und muss in allen betrieblichen Funktionen angegangen werden.
3. Ihre Geschäftsführung muss voll und ganz hinter dem Projekt stehen und etwaige Handlungsdefizite aktiv abbauen wollen.
4. Die Geschäftsleitung hat Vorbildfunktion. Wenn sie mit älteren Mitarbeitern wertschätzend umgeht, werden die Abteilungsleiter das auch tun.
5. Gewinnen Sie Ihre Belegschaft für das Projekt. Eine gute Mitarbeit von Personen von der Basis her ist für den Erfolg entscheidend. Integrieren Sie Ihre Mitarbeiter bei der Maßnahmenentwicklung und -umsetzung. So wird ihr Betrieb demographiefit.

Interview: Oliver Höflinger und Christina Otte, Germany Trade & Invest Bonn
Mit freundlicher Genehmigung der GTAI


Weitere Informationen:
https://www.marketsinternational.de/demografie-als-chance-begreifen/

Das Programm rebequa steht für „Regionale Beratung und Qualifizierung“. Es ist ein Förderprogramm, das 2006 in Nordrhein-Westfalen (NRW) gestartet ist und durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales gefördert wurde. rebequa hat mit der qualifizierten „Demographieberatung“ erstmalig einen bundesweiten Qualitätsstandard zur betrieblichen Bewältigung des demographischen Wandels in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geschaffen.

Heute sind über 1.150 Demographieberater in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig. Über 26.600 Betriebe haben bislang eine qualifizierte Demografieberatung in Anspruch genommen. Laut einer bundesweiten Umfrage ist die Nachfrage nach der qualifizierten Demografieberatung seit 2013 um rund 30 Prozent gestiegen.